It is only shallow people who do not judge by appearances. The mystery of the world is the visible, not the invisible.
Dies ein Zitat des englischen Dichters Oscar Wilde, welches Susan Sontag ihrem – mittlerweile legendären – Text „Against interpretation“ (1964) voranstellt. „To interpret is to impoverish, to deplete the world“, führt sie da aus, „in order to set up a shadow world of 'meanings'.“
Nun schießt sich Sontag mit ihrer Kritik zwar großteils auf die Art unseres Umgangs mit Literatur ein, doch es ist meiner Ansicht nach durchaus in ihrem Sinn, ihre Thesen auch auf alle anderen Gebiete der Kunst auszuweiten. Allerdings haben wir hier ein wenig nachzujustieren: Musik – wie alle darstellende Kunst – bedarf eines Vermittlers, um erfahrbar zu werden. Ob es sich bei diesem Vermittler um den vortragenden Künstler auf der Bühne handelt oder schlicht um ein vermittelndes Moment – um mich selbst z.B. daheim auf meiner Wohnzimmercouch (also meine eigene Fähigkeit zu singen, Klavier zu spielen oder Akkorde auf der Gitarre zu schlagen) – ist einerlei, Faktum ist: Musik wird, allein durch den bloßen Akt der Klangerzeugung, nolens volens immer interpretiert werden müssen. Man mag einwenden, Susan Sontag spreche ja vom Part des Rezeptoren, also von Interpretation im Zuge der Rezeption, wohingegen im Konzertsaal die Fronten ja zweifelsfrei offen lägen: Auf der Bühne interpretiert der Musiker, im Zuhörerraum rezipiert das Publikum. Diesen Einwand wollen wir nicht gelten lassen: Auch der Zuhörer interpretiert für sich das, was er zu hören bekommt, und vor allem ist der vortragende Musiker, der Interpret im herkömmlichen Sinne, ja gleichzeitig auch sein eigener, erster Zuhörer!
In diesem Text will ich mich also mit Problematiken hinsichtlich der Interpretation des Wagnerschen Werkes befassen, wobei ich mein Hauptaugenmerk weniger auf die spezifischen Anforderungen richte, die die Umsetzung einer Opernpartitur Wagners an uns stellt – das haben andere schon in weitaus überzeugenderer Weise getan, als ich je dazu imstande wäre – mir brennt eine viel grundsätzlichere Frage unter den Fingern: Haben wir überhaupt noch alle nötigen Werkzeuge zur Hand, die uns zu einer erkenntnisfördernden und lustbringenden Rezeption befähigen? Oder anders gefragt, ist unser durch neoliberalen postmodernen Repressionsterror ausgehöhlter Sinn denn überhaupt noch in der Lage, die Werke Richard Wagners in ihrer vollen erhabenen Größe zu erschauen und zu genießen?
Gespannt sehen wir jeder Neuinszenierung auf der Opernbühne entgegen: Welche moderne, unkonventionelle Lesart des Werkes wird uns die Regie wohl diesmal präsentieren, darüber spekuliert – geradezu pflichtversessen – der Feuilleton oft schon Wochen im voraus. Fast hysterisch wird die Anteilnahme, wenn es sich um eine von Richard Wagners Opern handelt – zumal das Schaffen des Bayreuther Meisters ja nach wie vor auch politisch einiges an Zündstoff bietet.
Die Rezeption von Opern – wie von aller Kunst überhaupt – soll uns also ästhetisches Genießen und geistige Bereicherung bedeuten, quasi ein Akt mentaler Wertschöpfung. Der Wert, d.h. die Bedeutung des Kunstwerkes selbst ermisst sich dem allgemeinen Dafürhalten nach nicht zuletzt daran, dass es zeitlos erscheint – es hat selbst nach unzähligen Generationen nichts an Strahlkraft eingebüßt. Ganz im Gegenteil: Wir lassen uns manchmal sogar zur Bemerkung hinreißen, das eine oder andere Kunstwerk sei überhaupt „aktueller denn je". Doch worauf im besonderen reflektiert jenes Erkennen, das da große Aktualität ausmachen will? Auf die (künstlerische, politische, religiöse) Aussage, die wir durch den Prozess unserer Rezeption extrahieren und die uns dadurch verständlich wird. Dieser Ansatz ist jedoch höchst problematisch, da er konsequenterweise sofort die Frage aufwirft: Wie kann dann jener weiter oben postulierte Anspruch auf Überzeitlichkeit bestehen bleiben?
Wo Äpfel und Birnen zusammen gezählt werden, entsteht zwangsläufig Verwirrung, und das grobe Missverständnis, das sich allzu hartnäckig in unseren Köpfen festgesetzt hat, besteht einfach darin, Form und Inhalt miteinander zu verwechseln. Der Künstler realisiert sein Werk, indem er der Materie, die er behandelt, Form gibt. Wir hingegen schenken dem Phänomen der Form kaum Beachtung und haben es uns zur Angewohnheit gemacht, das Kunstwerk auf seinen Inhalt zu reduzieren (genauer gesagt auf das, was wir für seinen Inhalt halten), den wir dann fälschlicherweise als seine Form ansehen.
Eine solche Vorgangsweise bedeutet nichts anderes als fremdes Terrain frech zu usurpieren! Es handelt sich um einen Akt der Gewalt, den wir da setzen, und nicht einen des Erkennens! Wir können Kunst anscheinend gar nicht (mehr) anders rezipieren als durch Besitznahme – so stellen wir vorerst einmal sicher, Kontrolle über die den Kunstwerken immanenten Kräfte zu behalten.
In most modern instances, interpretation amounts to the philistine refusal to leave the work of art alone. Real art has the capacity to make us nervous. By reducing the work of art to its content and then interpreting that, one tames the work of art. Interpretation makes art manageable, comfortable.
Mit der Aussage „Wir bekommen zwar (auf der Bühne) dieses eine zu sehen und zu hören, gemeint ist aber (natürlich) jenes andere“ diskreditiert sich jeder interpretatorische Ansatz a priori und wird damit hinfällig.
Manchmal wünscht man sich, über Mahlers Person wäre so wenig bekannt wie über Shakespeare. Dann würden jene, die sich aus irgendeinem Missverständnis heraus zu Mahler hingezogen fühlen, vielleicht gezwungen sein, die Partituren zu studieren, anstatt Alma Maria zu lesen und Seelenforschung zu betreiben.
Zugegebenermaßen macht es uns Wagner ja nicht gerade einfach, seinem künstlerischen Werk unvoreingenommen zu begegnen, verführt er uns doch durch eine Überfülle an theoretischen Schriften zu jenem „rezeptorischen Ursündenfall", alle möglichen (und unmöglichen!) Lesarten seiner Opern nicht bloß als legitim zu erachten, sondern vielmehr vehement einzufordern! Wenn Wagner auch stets den Anspruch vertrat, dem „Kunstwerk der Zukunft“ den Weg zu bereiten, so konnte (und wollte) er sich auch unmöglich über den Kanon einer fortschrittsbegeisterten, um nationale Identität ringenden Gesellschaft, die er schließlich vertrat, hinwegsetzen. Und genau an dieser Stelle orte ich den Knackpunkt, bei dem die große Schwierigkeit, heutzutage (nicht nur!) Wagners Werk zu rezipieren, offenkundig wird: Wie kann die durch postmodernen, neoliberalen Narzissmus verblendete Wahrnehmung denn in Gottes Namen den revolutionären Geist einer revolutionären Epoche auch nur in Ansätzen würdigen?
Ganz zurecht spricht der Wiener Philosoph Robert Pfaller (in Anlehnung an Max Weber) von einer Ethik der Würdelosigkeit, die er unserer postdemokratischen Gesellschaft attestiert. Die Entzauberung der Welt (Max Weber) habe alles, was das Leben aufregend, zauberhaft, glorreich, mondän, großartig macht, aus unserem Wertekanon eliminiert, und wir fänden uns wieder in einer schalen Welt narzisstischer Nabelschau. Uns fehlen einfach Sinn und Platz für die große Erzählung - und was sind Wagners Opern schließlich denn große Erzählungen –, es scheint, wir wollen uns durch nichts mehr in den Bann ziehen, verzaubern lassen, schon gar nicht durch promiske Umtriebe abgehalfterter Götter.
Misstrauisch begegnen wir allem, was außerhalb unsrer selbst steht, unsere narzisstische Gegenwartskultur ist geprägt von einem unaufhörlichen Prozess der Verinnerlichung – Gültigkeit kann nur noch das besitzen, was authentisch ist, was als persönliches Bekenntnis mit dem Selbstbild in möglichst vollkommene Übereinstimmung gebracht werden kann. „Eine narzisstische Kultur ermutigt den Narzissmus der Individuen, nichts zu dulden, was sie über ihr Ich hinausführt.“ (Robert Pfaller) Diese fortschreitende Verinnerlichung geschieht naturgemäß auf Kosten der äußeren Form: Fast ausschließlich zählt nur das, was gemeint ist oder gemeint sein könnte – dem schönen Schein dagegen, dem so-als-ob, wollen und können wir absolut nichts mehr abgewinnen.
Die magischen Kräfte, die in den Zustand der Verzauberung versetzen können, werden aber nur im Außen wirksam, sie bedürfen klar umrissener Form, so sie effektiv sein sollen: Schon in Kindheitstagen beispielsweise erfuhren wir aus Märchen, dass Zauberformeln wortwörtlich rezitiert werden müssen – jede kleinste Abweichung vom Wortlaut setzt den Zauber sogleich außer Kraft. Ein Spiel – um ein weiteres Beispiel zu nennen – verliert mit dem Augenblick an Faszination, da auch nur ein Spieler sich nicht an die Regeln hält, sprich: Von der äußeren Form abweicht. Einer Gesellschaft jedoch, die vornehmlich darin besteht, dass ihre Mitglieder sich gegenseitig ohne Unterlass in tweets oder facebook-Statusmeldungen mit bekenntnishaften Formeln über die aktuelle Befindlichkeit bombardieren, sind ganz offensichtlich Allgemeinplätze, also Orte der Äußerlichkeit, verloren gegangen. Der letzte Vorhang der großen human comedy scheint längst gefallen, die Bretter der glorreich-tragischen Weltenbühne, auf der wir uns gegenseitig mit kindischem Eifer etwas vorspielten, auf der wir uns verzaubern lassen durften, auf der wir mit heiligem Schauer Zeuge heroischer Tabubrüche wurden, auf der eleganter Stolz einher schritt und heiliger Zorn wütete, diese Bretter sind morsch und brüchig geworden – „la commedia é finita!“
Wohin dann also mit diesem großartigen Entwurf, den Richard Wagner mit seinem Werk dargelegt hat, da uns im Zuge unserer Demontage alles äußeren Prunks und aller Pracht aus unserer Welt allem Anschein nach auch unser Vermögen abhanden gekommen ist, jene in vollen Zügen zu genießen? Darf man ihn dem fundamentalen Missverstehen, demzufolge man Inhalt schaffen müsse, um der äußeren Form zur Existenzberechtigung zu verhelfen, als Beute überlassen? Diesen unsagbar hohen Preis, den Verrat am Lebenswerk des Meisters, ist narzisstische Gesinnung bereit zu zahlen, nur auf dass sich unser armseliges Selbst in allem, das uns umgibt, wieder erkennen darf! Dem Göttervater höchst selbst wurde solcher narzisstischer Frevel zum Verhängnis: „Zum Ekel find' ich ewig nur mich in allem, was ich erwirke! Das andre, das ich ersehne, das andre erseh' ich nie!“ (Die Walküre, II. Akt) Und wie dieser Frevel allein gesühnt werden kann, hat uns Wagner ja deutlich und herrlich vor Augen geführt: Im Weltenbrand der Götterdämmerung!
Das Ringen um die äußere Form hat etwas zutiefst Heroisches an sich, das ärmliche Zählen von Groschen, um sich Inhalt zwecks zu exekutierender Interpretation desselben zusammen zu sparen, entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie: „Herr Ritter, wisst: Sixtus Beckmesser Merker ist; hier im Gemerk verrichtet er still sein strenges Werk.“ (Die Meistersinger von Nürnberg, II. Akt). Doch selbst die peinlichsten Beckmesserischen Umtriebe im mittelalterlichen Nürnberg haben noch Würde im Vergleich zu unseren kleinlichen Textdeutungen, mit denen wir des Meisters Werk zu Leibe zu rücken glauben müssen!
Natürlich hat eine Inszenierung zeitgemäß zu sein – es wäre lächerlich, wollte man an überlebter Ästhetik festhalten wollen –, doch zeitgemäß in der Wahl der (technischen) Mittel und nicht zeitgemäß im Sinne zwanghaft eingeforderter Bekenntnisse zu den abstrusesten interpretatorischen Ansätzen. Warum in aller Welt ist es augenscheinlich so unstatthaft, sich einfach nur verzaubern lassen zu sollen: Durch eine verwirrende, fesselnde, faszinierende Geschichte etwa, die um Reichtum, Liebe und Macht spielt, sprachlich grandios ausformuliert – von ergreifender Metaphorik, über tiefsinnige philosophische Ausführungen bis hin zu herrlicher, schier dadaistischer Onomatopoesie –, getragen von den kraftvollsten musikalischen Gedanken, die meisterhaft ausgeführt sind?
Interpretation zielt auf den Inhalt ab und hält die äußere Form für vernachlässigbar, weil als solche per se unvollkommen. Sigmund Freud hat sich eingehend mit der Frage um Inhalt und Form beschäftigt, um eine wissenschaftlich fundierte Theorie der Psychoanalyse zu entwickeln. Diese müsse formalistisch sein, fordert er, denn nur die äußere Form sei objektiv beschreibbar, der Inhalt könne das nie sein. Quasi als „Nebenprodukt“ liefert er uns dabei einen durchaus brauchbaren Ansatz für eine Theorie der Kunst – in seiner Psychopathologie des Alltagslebens bekennt er sich explizit zu einer „Theorie der Perfektion ihres Gegenstandes“ (Pfaller): „Kurz, was nach Meinung der Autoren eine willkürliche, in der Verlegenheit eilig zusammen gebraute Improvisation sein soll, das haben wir behandelt wie einen heiligen Text.“
Dieser heilige Text ist nichts anderes als jene weiter oben erwähnte Zauberformel aus dem Märchen: Nichts darf daran (durch interpretatorisches Heraus- bzw. Hineinlesen einer inhaltlichen Bedeutung) verändert werden, er muss wortgetreu bestehen bleiben. Der heilige Text als solcher ist perfekt, und er ist es durch seine Form, durch seinen Wortlaut. Sobald Interpretation versucht, einen bestimmten Sinn hineinzulegen bzw. herauszulesen, wird der Wortlaut – und damit das ureigenste Wesen des Textes – unterdrückt und zerstört.
Seien es nun die Auswüchse des sogenannten Regietheaters, seien es gelehrte wissenschaftliche Publikationen – Richard Wagners heilige Texte haben schon einiges an Unterdrückung und Zerstörung erleiden. Es nützt nun einmal nichts: Eine Geschichte, soll sie den Zuhörer fesseln, muss einfach gut erzählt werden – und eine große Geschichte muss sehr gut erzählt werden. Und so stelle ich mir – ganz im Sinne Wolf Rosenbergs (siehe sein weiter oben angeführtes Zitat) – die Frage, welchen Gewinn es nicht bedeutete, würde all jener Aufwand an Zeit und Energie, den interpretatorisches Aufrüsten verlangt, an anderer Stelle eingesetzt, nämlich um darstellerisch und musikalisch ergiebiger zu proben, um an der Textdeutlichkeit der Sänger zu arbeiten, um detaillierte und exakte Balanceverhältnisse zwischen Bühne und Orchester zu etablieren – kurz: Um die knisternde Erotik des fast schon unanständig Zauberhaft-Üppigen, mit der jede der Wagnerschen Opern zuhauf aufwartet, in allem Glanz erlebbar zu machen!
„In place of a hermeneutics we need an erotics of art“, fordert Susan Sontag. Wir essen Butter ohne Fett, trinken Bier ohne Alkohol, rauchen Zigaretten ohne Teer und Nikotin, konstruieren unser Geschlecht diskursiv, haben körperlosen Sex – muss es da denn auch noch unbedingt Wagner light sein?
Ralf Kircher